Ballacks Nationalknöchel oder: The Message is the Medium

Ich oute mich mal als einer dieser langweiligen Typen, die alle paar Monate ein Fußballspiel gucken und die Bundesliga sonst nicht großartig verfolgen. Ich bin einer von denen, die im Zweijahresrhythmus bei WM und EM werwolfähnlich zum Fan mutieren und den Rest der Zeit pro forma St. Pauli gut finden, wofür ich immerhin die Entschuldigung vorbringen kann, bis vor kurzem noch in Hamburg gelebt zu haben. Vor diesem Hintergrund geht es um Ballack und die mediale Relevanz seines vorderen Syndesmosebandes des rechten oberen Sprunggelenks.

Also Ballack spielt nicht mit in Südafrika und die eine Hälfte des Landes sieht deshalb schon den Weltungergang nahen, während sich die andere Hälfte ernsthaft Sorgen um den Geisteszustand der ersten Hälfte sowie unserer Medien macht. In der Tat: Griechenland-Krise und Euro-Hysterie, Staatsschulden und durch Streiks lahm gelegte Krankenhäuser, Ölpest im Golf von Mexiko und Krieg in Afghanistan – aber ARD und ZDF unterbrechen beide ihr Programm für Ballacks Nationalknöchel. Besonders schön ließ sich der Unmut darüber gestern auf Twitter beobachten (hier nur ein Beispiel von sehr vielen):

Wieviel besser als Fernsehen und Zeitung funktionieren da meine selbst gewählten Filter. Mein Newsreader – zunächst weitestgehend frei vom Thema – erfreute mich heute mit der Meldung, dass die Ballack-Sondersendungen bei ARD und ZDF miese Einschaltquoten hatten, was ich gerade viel interessanter finde als Löws Notfallpläne. Offenbar haben die Leute doch noch andere Sorgen, als Medienmacher ihnen unterstellen. Auch in meiner (natürlich ganz auf mich zugeschnittenen) Twitter-Timeline war das Thema eher eine Randerscheinung: Tatsächlich habe ich gestern vom Ballack-Aus erst indirekt durch einen Witz erfahren.

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Derzeit filtern auch Redaktionen noch für mich, wann immer ich “SPON” oder “heise Online” lese. Aber was sie produzieren, sind nur noch Zeilen in sehr langen Listen ungelesener Artikel meines Newseaders, die ich überfliege. Fast alles, was ich intensiver nachlese, stammt nicht aus diesen Quellen, sondern aus anderen Blogs bzw. aus meiner Twitter-Timeline. Ich lese also keine Medien mehr, sondern Menschen. Ein Artikel ist nicht mehr unbedingt interessant, weil er über ein bestimmtes Thema berichtet, sondern weil ein Mensch, von dem ich (warum auch immer) viel halte, das Thema für berichtenswert hält und deshalb mein Interesse weckt. Nachrichten entwickeln als Meme in sozialen Netzwerken ihr Eigenleben. Es ist fast so, als könne man den alten Spruch umdrehen: The Message is the Medium.

Ballacks Knöchel ist ein schönes Beispiel dafür, wie gut diese neuen, selbst gewählten und individuellen Filter funktionieren. Für mich interessante Themen erreichen mich tatsächlich über eine soziale Vorauswahl, die zugleich dafür sorgt, dass wirklich wichtige Nachrichten aus eigentlich für mich uninteressanten Gebieten doch irgendwie zu mir durchdringen, weil einfach sehr viele Leute in meinem Umkreis sie weitertragen. Die kann ich bei Zeit und Interesse tiefer gehend nachlesen oder auch nicht, während mich das Fernsehen zum ab- oder umschalten zwingt und Zeitungen aus Papier mich zuverlässig morgens mit den schal gewordenen Schlagzeilen von gestern anschreien. Eigentlich ist es das Gegenteil einer Informationsflut: Ignorieren war noch nie einfacher. Ich frage mich manchmal, ob hier nicht der tiefere Grund für die Zeitungskrise liegt als nur bei der Zahlungsbereitschaft der Leser.

P.S.: Natürlich habe ich gestern dann den erstbesten SPON-Artikel über Ballack in der Mittagspause auf dem Handy gelesen. Schließlich hat meine Verwandlung zum Werfan schon wieder eingesetzt.

5 Gedanken zu „Ballacks Nationalknöchel oder: The Message is the Medium“

  1. Interessante Theorie, die du leider nur am Rande erwähnst. Menschen lesen statt Online-Medien lesen und die Meldungen, die für dich interessant sind, finden dich trotzdem. Menschen als die Medien von morgen. Darüber lohnt es sich wirklich, mal nachzudenken!

  2. Gehöre auch zu den Werfans und von daher interessiert die Ballackgeschichte schon. Aber einen Brennpunkt zu schalten halte ich trotz des ganzen Fangeheules für unangebracht! Obwohl…. Was wurde denn Ersetzt?

  3. Es wäre schön, wenn die Leute andere Sorgen hätten, als sich Ballack-Sondersendungen anzusehen, stattdessen gründen sie noch lieber jede Menge fiese Facebookgruppen voller ätzender Schmähungen auf den angeblichen neuen “Staatsfeind” – erschreckend! Die dunkle Seite der Social-Media Macht ….

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