Das “Wir sind Lena”-Phänomen durchzieht die Blogs
31. Mai 2010 - Andreas Floemer

Die quirlige Abiturientin Lena Meyer-Landrut aus Hannover kannte vor vier Monaten keine Sau. Dann kam Stefan Raab mit der Verzweiflungsaktion, Deutschland aus dem musikalischen Sumpf zu holen. „Unser Star für Oslo“ war geboren und der Eurovision Song Contest am letzten Samstag gewonnen. Das riesige Medienecho ließ nicht auf sich warten.
Erstaunlich fand ich die riesige Welle an Artikeln, die die Blogosphäre überrollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der verstaubte und uncoole Eurovision Song Contest jemals auf eine derart positive Weise in Blogs wie Nerdcore thematisiert wird. Den Lesern gefällt’s: Ich konnte eben allein über 200 Kommentare zu dem Artikel auf Nerdcore zählen. Stefan Niggemeyer und Lukas Heinser bastelten sogar das Blog Oslog.tv und waren vor Ort in Oslo dabei, um das Event Live mit zu erleben und per Videocast zu berichten.
Noch nie war der Eurovision Contest so beliebt wie heute, noch nie wurde so viel vorab über dieses Event berichtet. Hat sich irgend etwas an der Struktur des Contests geändert? Nicht wirklich. Woran liegt es dann, dass diese Veranstaltung plötzlich so beliebt ist? Liegt es wirklich nur an Lena? Die Frage muss wohl bejaht werden. René Walter trifft der Frage nach dem Warum wohl auf den Punkt:
…weil sie einen Scheiß auf alle gibt und das auch genau so öffentlich sagt (und es tatsächlich auch genau so formuliert). Seit Jahren gibt es einen ästhetischen Trend in Richtung Authentizität, mit Lena ist der nun endlich im Pop angekommen.
Dieser Faktor der Authentizität ist bestimmt ein wichtiger Punkt, weshalb die Blogosphäre sich auf sie gestürzt hat. Und ich kann es absolut unterschreiben. Im Vergleich zu den meisten Interpreten machte sie den natürlichsten und am wenigsten aufgesetzten Eindruck. (Ich habe mir den Song Contest natürlich allein aus Recherche- Gründe angesehen. ;-) )
Trotz der feierlichen, ausgelassenen Stimmung, die in Hupkonzerten und Feuerwerkskörpern aber auch massenhaft in Blogposts und Tweets mit dem Hashtag #ESC zeigten, kamen wohl einige mit der Null-Punkte Wertung aus Israel nicht so ganz klar. Der Politblogger fasste einige Stimmen aus Facebook zusammen, die mich sprachlos werden lassen. Dass diese null Punkte aus Israel so einen Schwall antisemitischer Äußerungen nach sich ziehen, ergibt ein so trauriges Bild, dass ich es schon fast begrüße, dass in den letzten 28 Jahren kein Deutscher den Song Contest gewonnen hat.
Meiner Ansicht nach ist es vor allem Stefan Raabs Erfolg. Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, dass er das System verändert hätte.
Doch es ist ihm gelungen, die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen eine frische Kandidatin gefunden und dann auch antreten konnte.
Trend zu Authentizität? Den sehe ich überhaupt nicht in der Pop-Musik. Aber der ESC-Erfolg beweist, dass es jenseits der derzeitigen Trends ein Interesse an einem anderen Stil gibt.
Von allen Teilnehmern hat Harel Skaat mit “Milim” am meisten Herzblut reingelegt, ich fand seine Gänsehaut auslösende Ballade ergreifend schön! Der junge Israeli ist mein Favorit gewesen. Daneben gefiel mir noch Didrik Solli-Tangen (Gastgeberland Norwegen) mit “My heart is yours” (auch wenn er beim Finale, anders als bei den Proben, stimmlich nicht ganz auf der Höhe war) und Tom Dice (Belgien) mit seinem wunderbar unprätenziösen “Me and my guitar” sehr gut. Ansprechend fand ich noch Dänemark (soll angeblich geklaut sein, aber lieber gut geklaut als schlecht erfunden!), Zypern und Irland. Harel und Didrik brauchen sich aber nicht ob der mäßigen Plazierung zu grämen: Balladen haben es beim “neuen” Grand Prix nun einmal schwer, selbst Altmeister Andrew Lloyd Webber erreichte mit der grandiosen Jade Ewen und “It’s my time” “nur” Platz 5 im Vorjahr für das Vereinigte Königreich.