27. Oktober 2009 - Jürgen Vielmeier

Immer weiter: Der neue Trend Echtzeit-Web ermuntert viele Menschen zu einem völlig neuen Lebensgefühl: Kein Stillstand, Veränderungen am laufenden Band, was gestern war, interessiert nicht mehr. Aber ist der Mensch dafür überhaupt geschaffen?
Ihr werdet lachen, wenn ich hier ein altes deutsches Volkslied zitiere, eine frühe Form von Echtzeit aus den 1870er Jahren: “Hoch auf dem gelben Wagen”. Der Schlagersänger Heino hat es einst gesungen. Zur Ehrenrettung meines Musikgeschmacks sei hinzugefügt: er nicht als erster. Das Lied handelt von der Reise mit einer Postkutsche. Dem Erzähler gefällt die Landschaft, die er sieht, aber er kann nicht anhalten, um sie sich genauer anzuschauen:
Hoch auf dem gelben Wagen
Sitz’ ich bei’m Schwager vorn.
Vorwärts die Rosse jagen,
Lustig schmettert das Horn.
Berge und Wälder und Matten,
Wogendes Aehrengold. –
Möchte wohl ruhen im Schatten,
Aber der Wagen rollt.
Wer das Lied hört, denkt wohl unweigerlich: Ja, dann halt den verfluchten Wagen in Gottes Namen an oder steig halt ab! Texter Rolf Baumbach hat aber schon früh erkannt, wohin mit der Massenkommunikation der Weg geht: Immer weiter ohne Stillstand, auch wenn der Mensch in seiner Natur eigentlich schon mit viel weniger Veränderung zufrieden wäre.
Live sehen, was die Freunde machen
In heutigen Internet-Zeiten erleben wir den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung: Blogs und Software müssen ständig aktualisiert werden, laufend gibt es neue Plugins, die eine bahnbrechende Neuerung enthalten könnten. Und nicht nur das Blog selbst wird aktualisiert, es wird mit Diensten wie Tumblr oder Posterous gleich neu erfunden. Wer mit der Konkurrenz mithalten will, muss jede neue Entwicklung zumindest kennen, prüfen und im Idealfall gleich einbauen.
Von Kommunikationsdiensten wie Twitter, Facebook und Friendfeed will ich gar nicht erst reden. Man kann praktisch live verfolgen, was die Freunde gerade machen. Und fängt man damit erst einmal an, kann man schnell einen Tag damit verbringen, gar nichts anderes mehr zu machen.
Social Network Twitter: Kommunikation, die niemals endet.
Echtzeit im Alltag
Auch im Alltag hat dieses Phänomen Einzug gehalten. Die Bildungselite macht es vor: Nach einem Studium gleich das nächste, Doktorarbeit, Auslandsaufenthalt, lebenslanges Weiterbilden. Im Fernsehen nach einem Quotenflop gleich die nächste Show. Alle zwei Jahre einen neuen Job, ein neues Handy, einen neuen Laptop, bald ebenso schnell einen neuen Fernseher, der die immer neuen Standards beherrscht. Der Trend geht zu immer kürzeren Abständen zwischen Neuigkeiten. Es ist unglaublich spannend, was derzeit alles erfunden wird, voran geht, passiert.
China ist das beste Beispiel für ein Land in ständiger Veränderung. Baumaßnahmen in den Städten lassen praktisch keinen Stein mehr auf dem anderen stehen, der vor zehn Jahren noch da war, die Menschen drängen nach dem Neuen, wollen diese Veränderungen möglichst schnell. Gleichwohl sagen viele Menschen aus dem Westen den Chinesen nach, nur in der Gegenwart denken zu können. Was gestern war, interessiert die Menschen nicht. Eine Vergangenheitsbewältigung, für die wir Deutschen Weltmeister sind, gibt es in China kaum: Der Bürgerkrieg, das Tiananmen-Massaker, Mao und die Kulturrevolution – was soll gewesen sein! Ist Echtzeit also nur eine Kulturfrage?
Ich persönlich hatte damit in den vergangenen Jahren einige Schwierigkeiten. Schuld waren Zeit und Tagesgeschäft und vielleicht auch falscher Stolz auf das bisher Erreichte. Für grundlegende Änderungen am Blog-Template von YuccaTree war einfach zu wenig Zeit. Das Tagesgeschäft, auf dem man unweigerlich früher oder später verharrt, ließ es nicht zu.
Bei Facebook sind die Neuigkeiten der Freunde ein ständiger Fluss.
Ein Leben in ständiger Veränderung
Vielleicht ist der Deutsche auch einfach etwas abwartender als der Amerikaner mit seinem Trial-and-Error oder der Chinese mit seinem Morgen-ist-heute. Über viele neue Webdienste liest man als Deutscher erst einmal, denkt kurz drüber nach und lässt dann doch erst einmal die Amerikaner den Beta-Test durchführen. Wenn es sich wenig später als Hype herausstellt, erinnert sich der Deutsche daran und springt dann leichter auf den rollenden Zug auf.
Was würde das bedeuten, ein Leben in konstanter Veränderung zu leben? Als Techblogger zum Beispiel jeden Tag ein neues Plugin zu installieren und sich bei einem neuen Dienst anzumelden. Im Geschäftsleben jeden Tag etwas Neues wagen und jemand Neuen kennenlernen. Im Privatleben jeden Tag ein neues Album hören, ein neues Kochrezept ausprobieren oder einmal die Woche eine neue Trendsportart ausprobieren.
So ein Leben kann unglaublich spannend sein, und doch kostet es viel Zeit. Und es würde eigentlich nicht erlauben, alte Lieblingsdinge erneut zu tun, also beim Beispiel Kochrezepte ein Gericht mal wieder zu kochen, wenn es lecker war. Aber erreicht man nicht irgendwann den Punkt, an dem es selbst langweilig wird, jeden Tag etwas Neues zu erleben? Wer von euch hat Erfahrung mit dem Echtzeitleben gemacht? Habt ihr mal versucht auf Dauer so zu leben und wart ihr glücklich damit? Hält man so etwas für immer aus? Oder macht es euch nichts aus, ein wenig hintendran zu sein?
Feststehen dürfte jedoch: Ein wenig Echtzeit braucht der Mensch. Ganz ohne Veränderung wird es langweilig.
[...] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von Cala, YuccaTree Post erwähnt. YuccaTree Post sagte: Das Leben als ständiger Fluss: Ist der Mensch für Echtzeit geschaffen? http://bit.ly/1LnCaY [...]
Ich halte es vielmehr für notwendig, gelegentlich mal den Stecker zu ziehen und etwas Abstand von all der Echtzeit zu nehmen. Ich fahre beispielsweise jedes Jahr zu selben Zeit für 11 Tage in den Wald, und verzichte dort absichtlich auf (fast) alle Kommunikationsmittel. Wenn man dann wieder in den Alltag zurückkehrt, stellt man fest: Man hat nichts verpasst. Je schnelllebiger ein Trendzyklus ist, desto irrelevanter wird er.
Ein schöner Artikel, der zum Nachdenken anregt :-)
Sebastian.
Das Thema ist wichtig, aber die Frage ist irgendwie falsch gestellt. Das Leben fand schon immer “jetzt” statt und dafür ist der Mensch auch geschaffen.
Das Problem besteht in einer falschen Prioritätensetzung, darin, den falschen Dingen überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken.
Ab und zu mal einzutauchen in den Strom der Unwichtigkeiten ist nett, kann anregend sein, doch worüber muss / sollte man umgehend informiert sein? Über sehr, sehr wenig.
Ob News aus dem privaten Umfeld oder aus der großen Politik, was davon ist so dringend, dass es nicht warten kann?
Meine teuer bezahlte Zeitung, die ich im Abonnement beziehe, lese ich mit wechselnder Verzögerung. Manchmal sammeln sich ein paar Ausgaben an, bis ich mit der zuletzt gelesenen Ausgabe fertig bin. Wenn es wichtig ist, ist es auch noch in drei Tagen wichtig.
Es ist ähnlich wie bei Aufgaben, die zu erledigen sind: Wichtiges ist selten dringend und Dringendes selten wichtig. Es kommt darauf an, die wirklich wichtigen Dinge zu tun, nicht das, was irgendwie drängelt, aber weit weniger wichtig ist.
Bei Statusmeldungen gilt ebenfalls: Ich kann sie auch später noch lesen, ich muss mich davon nicht ständig ablenken lassen.
Das ist übrigens einer der Punkte, warum mir Twitter so gut gefällt: Im Gegensatz zu Instant Messaging / Chats kann ich lesen und schreiben, wenn ich gerade Zeit oder Lust dazu haben. Der Nachrichtenstrom gibt nicht vor, wann ich mich ihm zuwenden muss.
Nachsehen zu können (!), was die Freunde gerade machen bzw. was sie davon preisgeben, ist wunderbar. Deshalb muss man aber nicht die ganze Zeit dranbleiben.
Ich glaube, dass ein guter Teil der Lösung darin besteht, zu lernen, mit diesen Arten von Medien umzugehen. Im Umgang mit E-Mails ist es ja auch nicht sinnvoll, sich über jeden Eingang im Postfach informieren und ständig von der Arbeit ablenken zu lassen. Je nach den Umständen schaut man mehr oder weniger oft nach, was es an neuen Mails gibt.
Als Techblogger täglich ein neues Plugin o. ä. auszuprobieren, ist dann aber Teil des Jobs. Ein Problem sehe ich darin nur, wenn man meint, alles Neue weiter nutzen zu müssen.
Filter, ich sage es immer wieder, Filter sind das Wichtigste was es gibt uns aus diesem Dilemma zu helfen.