Die Geschichte vom bärbeißigen Casanova

Prinzipiell ist ja gegen Hörbücher nichts einzuwenden. Manchmal nutze ich sie sogar selbst, meistens anlässlich einer Zugfahrt. Gerne sind das dann solche, die nichts kosten. Die Deutsche Welle etwa hat einige Klassiker der deutschen Literatur vertont, allen voran Büchners Lenz. Sollte sich jeder sofort anhören, allein schon wegen „nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte“. Ein großer Vorteil von Hörbüchern ist außerdem der, dass sie nicht stinken. Aber was es damit auf sich hat, werde ich erst weiter unten erklären können.

Zunächst einmal muss ich ein paar Worte über LibriVox verlieren. Da LibriVox von vielen fleißigen Freiwilligen lebt, will ich versuchen, es so zu formulieren, dass deren Elan keinen Schaden nimmt.

LibriVox ist eine digitale Bibliothek voller kostenloser Hörbücher. LibriVox führt nicht nur einen Haufen großartiger Titel, sondern ermöglicht auch drastische Erkenntnisse über das Wesen mündlich vorgetragener Literatur. Anders als vom Laien vielleicht vermutet, hängt der Genuss eines Hörbuches nämlich gar nicht so sehr von der Auswahl des richtigen Werkes ab. Als viel bedeutender stellt sich das Talent des Sprechers heraus. Dem aufgeschlossenen Literaturliebhaber ermöglicht die bunt gemischte Palette an LibriVoxsprechern manch Begegnung mit lieb gewonnenen Büchern, die er so bestimmt nicht erwartet hätte. Der Benutzer sei daher eindringlich auf die Möglichkeit hingewiesen, vor dem Herunterladen in die Bücher hineinzuhören.

So wie ich, der sich nach langem Hin und Her für Arthur Schnitzler: Casanovas Heimkehr entschied. Mein Zug hatte den Bahnhof noch nicht verlassen, da war ich schon gebannt.

Der angejahrte Casanova will nach Hause. Ohne eine Lira in der Tasche, faltig, sein einstiges Feuer erloschen. Auf seinem Weg mehrere Frauen. Ein „junges Weib, die Peitsche in der Hand“ verheißt ihm mit Blicken, er könne „mit ihr anstellen, was ihm beliebte“; eine Wirtin bietet an, ihm das Essen gleich persönlich auf seinem Zimmer zu servieren; die Gemahlin seines alten Bekannten Olivo teilt ihm mit, sie habe einst „ihre erste Seligkeit mit ihm genossen“ und gedenke, ihm nun auch ihre letzte zuteil werden zu lassen. Doch keine dieser Versuchungen schert Casanova. Casanova will bloß noch heim.

Doch dann, im zweiten Kapitel, hat SIE ihren Auftritt. Mar-co-li-na! Ich lausche und staune, so greifbar ersteht Marcolina vor meinem inneren Auge. Fast scheint es mir, ich säße nicht länger in meinem Zugabteil, sondern bei Casanova und Marcolina an Olivos Tafel. In genüsslicher Ausführlichkeit legt Schnitzler die Gründe dar, warum Casanova nach Marcolina verlangt wie nach keiner vor ihr, sie lauten: Sie ist hübsch! Und klug!

Ich bin jetzt voll reger Anteilnahme, will schnell wissen, wie es weitergeht mit Casanova und Marcolina. Erst hinterher wird mir auffallen, dass ich an den Sprecher, der genau das tut, was ein Sprecher tun soll, nämlich unauffällig hinter der Geschichte zurückstehen, ohne ihren Fortlauf durch unnatürliche Pausen oder übertriebene Artikulation zu stören, noch keinen Gedanken verschwendet habe.

So gut war der.

Tja. Und dann, der Kitzel erhöhte sich noch über zwei weitere Kapitel, während welcher Casanova sich und mich vergeblich mittels Glücksspiel und dem Abfassen einer Streitschrift gegen Voltaire vom Gedanken an Marcolina abzulenken versuchte, las die Geschichte von einem Kapitel aufs nächste nicht mehr mein geschätzter unbeachteter Sprecher vor, sondern eine Frau.

„Was geht’s mich an, ob sie eine Jungfrau ist oder eine Dirne, Braut oder Witwe – ich will sie haben, ich will sie,“ ließ die neue Sprecherin meinen Casanova toben. Doch egal, mit wie viel Verve sie mir die Worte auch entgegen schleuderte, ich saß nicht mehr an Olivos Tafel. Casanova war jetzt eine bärbeißige Rothaarige. Und vom Antlitz Marcolinens blieb mir nur mehr eine blasse Erinnerung.

Das, liebe LibriVoxfreunde, hat nicht nur dafür gesorgt, dass es mir schlagartig vollkommen gleichgültig war, ob sich Casanova und dieses Mädchen nun kriegen oder nicht (ich weiß es noch immer nicht). Es hat mich auch mindestens so sehr getroffen wie damals die Geschichte vom stinkenden Buch.

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